Tschernobyl-Jahrestag: Ärzte gegen den Atomtod probten den Super-Gau in Berlin
Berlin Prenzlauer Berg. Auf der einen Straßenseite der Flohmarkt – auf der anderen direkt gegenüber dem Biomarkt die simulierte Katastrophe und viel Aktion im Dekontaminationszelt.
Eine zufällige Momentaufnahme von Gunter Schäfer, Direktor PR & Marketing der ÖKOWORLD
Am 26. April 2015 jährte sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. 29 Jahre ist es her, dass die Auswirkungen der Atomenergie uns Deutschen gefährlich nahe kamen. Mit einer öffentlichen Aktion mahnte die Ärzteorganisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung) zum Jahrestag an, dass ein Atomunfall auch in Berlin schnell Realität werden kann. Mit den Aktivitäten im Dekontaminationszelt und mit Megafonansprachen auf der Straße am Südende des Mauerparks wurde Passanten und Flohmarktbesuchern plakativ vor Augen geführt, was im Fall eines Atomunfalls - z. B. verursacht durch einen Flugzeugabsturz - im Experimentierreaktor Berlin-Wannsee (BER II) passieren könnte. IPPNW fordert bereits seit langem die Stilllegung des Reaktors, denn jederzeit kann es zu einer Atomkatastrophe und der Freisetzung von Radioaktivität kommen. Statt Jodtabletten wurden Bonbons an die Menschen verteilt.
Ich kam zufällig vorbei – den Tag zuvor hatte ich auf dem taz.lab im Haus der Kulturen verbracht und wollte mit meiner Frau Sandra vor der Rückreise noch über den bekannten Flohmarkt am Mauerpark schlendern. Kaum aus der Straßenbahn raus, waren wir mittendrin in der simulierten Atomkatastrophe. Die persönlichen und sehr sympathischen Gespräche mit den engagierten Ärzten haben uns beeindruckt. IPPNW war natürlich bereits vorher ein Begriff. ÖKOWORLD hat viele Kunden in diesem engagierten Umfeld. Aber das hier war nun live und in Farbe. Und auch aufrüttelnd beängstigend.
Aufklärung anstatt Panik
Mit gelben Schutzanzügen bekleidet standen viele engagierte Ärztinnen und Ärzte auf der Schwedter Straße am Mauerpark, während sich die Menschentrauben wie immer sonntags zum Flohmarkt tummelten. Über Megafon wurde verkündet: „Die Medien berichten, dass es eine Explosion und ein Feuer am Forschungsreaktor gab, schwarzer Rauch hängt über dem Helmholtz-Zentrum Berlin.“ Dort, 23 Kilometer entfernt in Wannsee, befindet sich der Forschungsreaktor. Weil die atomare Wolke nun wahrscheinlich auch Prenzlauer Berg erreicht habe, sollten sich alle Bürger zum Zelt begeben, um dort versorgt zu werden.
Alles nur gespielt… aber es ist kein Spiel
Vorsorglich informierten die Ärzte, dass alles „nur gespielt sei“. Jedoch könne aus dem Spiel auch leicht Ernst werden. „Wir wollen hier keine Panik machen, sondern aufklären“, ließen die Ärzte verlauten. Mit ihren gelben Schutzanzügen sahen sie in ihrem Manöver tatsächlich furchteinflößend aus. Jedoch versteckten sich unter den Kapuzen freundliche Gesichter, und helfende Hände kamen zum Vorschein.
Funktionierender Katastrophenschutz?
Denn: Vier Kilometer um den Reaktor herum müsste im Falle einer Katastrophe evakuiert werden. In einem Umfeld von acht Kilometern würden die Menschen aufgerufen, das Haus nicht zu verlassen. Auch müssten dort Jodtabletten verteilt werden, um Schilddrüsenkrebs vorzubeugen. Wahnwitzig ist, dass ein Katastrophenschutzplan nicht vorsieht, dass die radioaktive Wolke bis ins Zentrum vordringt. Was soll man sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und der Wind weht nur manchmal?
Sollte der Wind ungünstigerweise jedoch aus Süd-West wehen, könnte der Acht-Kilometer-Radius schnell überschritten werden. Schlussfolgerung: Massenpanik. Und die Krankenhäuser wären darauf nicht vorbereitet.
Was man noch vor Ort erfahren und lernen konnte: Kinder bekommen Jodtabletten, in der Simulation sind es Schokolinsen. An die Erwachsenen werden durch die Ärzte „Super-GAU akut“, Packungen mit 18 Pfefferminzbonbons verteilt. Menschen, die älter als 45 Jahre sind, gehen wegen des geringeren Risikos von Schilddrüsenkrebs leer aus.
Interessant: Die meisten Menschen wussten nicht, dass es diesen Reaktor überhaupt gibt und waren sich der Gefahr nicht bewusst.
Fazit: Atomkraft? Nein Danke!
Und: Danke an die engagierten Ärztinnen und Ärzte, die hier dafür gesorgt haben, dass wir mehr Bewusstsein erlangen konnten über Gefahren, die uns noch nicht einmal bewusst sind, weil wir diese schlicht und ergreifend nicht kennen.
Fakten zum Helmholtz-Zentrum
Das Helmholtz-Zentrum in Wannsee betreibt einen Forschungsreaktor, der nicht der Energiegewinnung, sondern als Neutronenquelle allein der Analyse von Materialien dient. Er ist nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert.
IPPNW-Deutschland: 6.500 Ärzte und Ärztinnen, Medizinstudierende und Fördermitglieder
Weltweit sind es noch mehr: Mehrere Tausend Mediziner und Medizinerinnen setzen sich in über 60 Ländern in allen fünf Kontinenten für eine friedliche, atomtechnologiefreie und menschenwürdige Welt ein. Für dieses Engagement haben die IPPNW im Jahr 1985 den Friedensnobelpreis bekommen.
IPPNW - ein komplizierter Name für ein einfaches Anliegen
Die IPPNW setzt sich dafür ein, erdumspannend Bedrohungen für Leben und Gesundheit abzuwenden. Sie arbeiten über alle politischen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg. Die Medizin ist vorbeugend und politisch: IPPNW setzt sich für friedliche Konfliktbewältigung ein, für internationale Verträge, für die Abschaffung von Atomwaffen und Atomenergie und für eine Medizin in sozialer Verantwortung.
IPPNW - das steht für "International Physicians for the Prevention of Nuclear War". In Deutschland nennen sie sich "IPPNW - Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V."
(Quelle: Website IPPNW)